Augen, Nase und Ohren

Das Geheimnis „visueller Ohren“

Kann man etwas hören, was man normalerweise nur sehen kann? Offenbar ja. Verantwortlich dafür ist ein Geniestreich im Gehirn.

17.07.2019

Das Blitzlicht einer Kamera, das Blinken eines Reklameschildes oder lautlose Grafikaustausch-Formate (GIF) wie etwa ein „seilhüpfender Hochspannungsmast“ – solche Dinge kann man bestenfalls mit seinen Augen wahrnehmen, aber nicht hören. Trotzdem gibt es Menschen, die genau das offenbar können.

Bilder, die man hören kann

Wissenschaftler der City University of London sind dieser Frage nun in einer Untersuchung nachgegangen, die im Journal of Cognitive Neuroscience veröffentlicht wurde. Demnach scheint eine Enthemmung des Signalstroms im Gehirnbereich dafür verantwortlich zu sein, der sich zwischen visuellen und auditiven Bereichen hin- und herbewegt – ein synästhesieähnlicher Effekt. „Wir wussten bereits, dass bestimmte Menschen hören, was sie visuell wahrnehmen. Blinklichter, blinkende Neon-Reklameschilder und Gehbewegungen von Menschen können alle ein Hörempfinden auslösen“, erklärt Dr. Elliot Freeman, Leiter der Studie und Dozent für Psychologie an der Londoner Universität. „Unsere neueste Studie zeigt gewöhnlich auftretende, individuelle Unterschiede, was die Interaktion unseres Sehsinns und unseres Gehörs anbelangt.“

Nicht konkurrierende Hirnareale

Eine Theorie besagt, dass Bereiche des Gehirns, die für die visuelle und auditive Verarbeitung verantwortlich sind, im Normalfall miteinander konkurrieren. Vorliegende Untersuchung legt jedoch nahe, dass diese Bereiche eventuell miteinander kooperieren bei Personen, die über ein visuelles Ohr verfügen. Es ist die erste Untersuchung, die einen Einblick in die Gehirnmechanismen gibt, die solche Hörempfindungen erzeugen – auch bekannt unter der Bezeichnung „visuell hervorgerufene auditive Reaktion“ (oder vEAR bzw. „visuelles Ohr“).

Musiker häufiger betroffen

Die Wissenschaftler fanden heraus, dass Musiker, die an der Studie teilnahmen, beträchtlich häufiger berichteten, über ein visuelles Ohr zu verfügen als Nicht-Musiker. Wahrscheinlich deshalb, weil eine musikalische Ausbildung die zeitgleiche Aufmerksamkeit auf den Klang der Musik und das visuelle Wahrnehmen der Bewegungsabläufe des Dirigenten oder anderer Musiker unterstützt.
Freeman: „Wir haben herausgefunden, dass Menschen mit visuellen Ohren beide Sinne gleichzeitig nutzen können, um geräuschlose Bewegungen sowohl zu sehen als auch zu hören, während bei anderen Personen das Hören beim Anschauen solcher visueller Sequenzen gehemmt wird.“

Zusammenarbeit statt Konkurrenz

Um herauszufinden, was sich im Gehirn eigentlich abspielt, wenn Menschen solche Inhalte ansehen, haben die Forscher mithilfe der transkraniellen Stimulation einen schwachen Wechselstrom an die Kopfhaut der Teilnehmer gelegt. Damit konnten sie die Wechselwirkungen zwischen den visuellen und auditiven Bereichen des Gehirns bei den Probanden mit und ohne visuelles Ohr untersuchen.
In einem ersten Experiment untersuchten sie 36 gesunde Teilnehmer, darunter 16 klassische Musiker des London Royal College of Music. Das Ergebnis: Bei den Teilnehmern ohne visuelles Ohr reduzierte die Stimulation (Alpha-Frequenz) die Hörleistung erheblich, die Sehleistung verbesserte sich jedoch. Umgekehrt verbesserte man mit der gleichen Stimulationsfrequenz im visuellen Bereich das Hören, während sich das Sehen verschlechterte. Diese Gegenseitigkeit deutet auf eine umkämpfte Wechselwirkung zwischen visuellen und auditiven Gehirnbereichen hin, wobei beide normalerweise die Leistung des anderen behindern.

Aufgaben besser lösen

Die entscheidende Beobachtung: Diese Wechselwirkungen waren bei den Teilnehmern mit visuellem Ohr nicht vorhanden. Ihre auditiven und visuellen Gehirnbereiche kooperieren also miteinander, statt zu konkurrieren. „Eine solche Kooperation könnte auch der musikalischen Leistung zugutekommen und erklären, warum so viele der getesteten Musiker von einem visuellen Ohr berichtet haben“, sagt Freeman. „Wir haben auch feststellen können, dass Teilnehmer mit visuellem Ohr im Durchschnitt sowohl bei den visuellen als auch den auditiven Aufgaben bessere Ergebnisse erzielten, als diejenigen ohne visuelles Ohr.“ Die Vermutung liegt also nahe, dass sich die audio-visuelle Kooperation positiv auf die Leistung auswirkt.

Enthemmungs-These bestätigt

Ein zweites Experiment sollte herausfinden, ob auch Menschen ohne bewusste Wahrnehmung ihres „visuellen Ohrs“ ihre auditiven Gehirnbereiche manchmal ausschließlich für visuelle Beurteilungen verwenden. Dies konnten die Wissenschaftler in der Tat für einige Probanden bestätigen. Und zwar bei denen, wo die Stimulation in Hörbereichen des Gehirns die Genauigkeit der visuellen Beurteilung fast ebenso stark beeinträchtigte wie die Stimulation visueller Bereiche.
Bestimmte Arten der Synästhesie hängen also von einer Enthemmung bereits vorhandener neuronaler Querverbindungen zwischen sensoriellen Gehirnbereichen ab. Und zwar solche, die normalerweise inaktiv sind. Werden diese Verbindungen nicht gehemmt, kommt es zu einer bewussten Wahrnehmung des visuellen Ohrs und anderer synästhetischer Phänomene. (red)