Allgemeine Medizin

Der Erreger macht keinen Unterschied

Der Bonner Virologe Prof. Dr. Hendrik Streeck ist seit Ende 2021 Mitglied des Corona-Expertenrats der Bundesregierung. Im Interview mit dem Medjournal spricht er unter anderem über die Corona-Sommerwelle und über Herausforderungen, die der Virologie bevorstehen.

17.11.2022
Prof. Dr. Hendrik Streeck ist Direktor des Instituts für Virologie am Universitätsklinikum Bonn und gefragter Corona-Experte.   Foto: Fabian Sommer Prof. Dr. Hendrik Streeck ist Direktor des Instituts für Virologie am Universitätsklinikum Bonn und gefragter Corona-Experte. Foto: Fabian Sommer

Der Bonner Virologe Prof. Dr. Hendrik Streeck ist seit Ende 2021 Mitglied des Corona-Expertenrats der Bundesregierung. Im Interview mit dem Medjournal spricht er unter anderem über die Corona-Sommerwelle und über Herausforderungen, die der Virologie bevorstehen.

Herr Professor Streeck, seit zweieinhalb Jahren ist Corona allgegenwärtig und bestimmt unser Leben – mal mehr, mal weniger. Es scheint aber so, als hätte die Krankheit zumindest einen Teil ihres Schreckens verloren. Wiegen wir uns in falscher Sicherheit?
Darauf kann man keine Schwarz-Weiß-Antwort geben. Zwar befinden wir uns im Übergang von der Pandemie zur Endemie, aber niemand hat die sprichwörtliche Glaskugel, mit der er voraussagen kann, wie es im Winter wird. Auf jeden Fall werden die Zahlen wieder ansteigen, wenn die Menschen mehr in Innenräumen zusammen sind. Wir müssen mehr aufeinander achtgeben – dazu gehört auch, dass man zu Hause bleibt, wenn man sich krank fühlt. Nicht nur wegen Corona, sondern auch wegen der Grippe, die ja im Winter Hochsaison hat. Wir müssen alles tun, um die Krankenhäuser zu entlasten, die ein strukturelles Problem haben und ausgelastet sind. Der Winter macht ihre Situation nicht leichter.

Wem raten Sie die vierte Impfung?
Die STIKO hat klare Vorgaben formuliert. Personen über 60 Jahren und Menschen aus Risikogruppen sollten sich ein viertes Mal impfen lassen. Jüngere und gesunde Menschen brauchen die vierte Impfung nicht.

Sind wir denn für diesen Winter geschützt?
Wir stehen nicht schlecht da. Natürlich kann nicht jede Infektion vermieden werden – aber das soll auch gar nicht so sein. Wir haben mittlerweile eine gute Immunität erreicht, einmal, weil die Impfungen gut sind, und dann hat uns auch die Sommerwelle gut auf den Winter vorbereitet.

Die Sommerwelle?
Ja, im Juni und Juli hatten wir in Deutschland die bislang größte Corona-Welle. An einigen Tagen wurden fast 300.000 Neuinfektionen gemeldet, und wir gehen von einer bis zu zehnmal höheren Dunkelziffer aus. Etwa 30 Prozent der Bundesbürger waren zu dieser Zeit mit Corona infiziert. Ich auch – am ersten Urlaubstag, das war kein Spaß. Aber ich konnte mich gut isolieren und auskurieren. So ist es auch vielen anderen gegangen. Und das ist schon mal ein guter Schutz für den kommenden Winter.

Wie war es Ende 2019/Anfang 2020 für Sie, als die ersten Meldungen über das neuartige Virus aus China kamen?
Zunächst habe ich das einfach zur Kenntnis genommen. Man hofft, dass so etwas lokal eingedämmt bleibt, aber als ich dann von dem ersten Fall in den USA gehört habe, war klar, dass das Virus um die Welt gehen wird. Noch in der Nacht habe ich mit unserem Labor gesprochen, weil wir den Corona-Test etablieren mussten.

Wieweit hat das Corona-Virus Ihren Berufsalltag verändert? Ist eine solche Pandemie Bedrohung oder Chance für einen Virologen?
Es ist sehr spannend und eine Chance, viel zu lernen. Wir haben Heinsberg, wo der erste Corona-Ausbruch in Deutschland war, praktisch vor der Haustür, das hat vieles vereinfacht. Dadurch konnten wir sehr schnell handeln und lernen. Wir waren weltweit die Ersten, die den Geruchs- und Geschmacksverlust beschrieben und nachgewiesen haben, dass das Virus nicht primär durch Schmierinfektionen weitergegeben wird.

War die pandemische Entwicklung mit so vielen Todesopfern absehbar?
Ich habe damit gerechnet und auch andere haben davor gewarnt. Es wird schon länger an der Familie der Corona-Viren geforscht, sieben bekannte infizieren den Menschen.

Welche Infektionskrankheiten zählen für Sie zu den schlimmsten?
Diese Frage muss man aus dem historischen Kontext heraus beantworten. Manche Infektionen, die früher tödlich waren, können heute leicht behandelt werden. Oder sie gibt es gar nicht mehr – so sind beispielsweise die Schwarzen Pocken heute ausgerottet.

Sind durch Corona andere Krankheiten in den Hintergrund gerückt?
Ja und nein. Die Aufmerksamkeit, die derzeit neuen Infektionen gewidmet ist, hat uns sensibilisiert. So haben wir ganz aktuell die Affenpocken oder die Tomatengrippe in Indien genau im Blick. Andererseits hat Corona auch Projekte ausgebremst: Wir standen kurz davor, auch die Kinderlähmung (Polio) auszurotten. Die Rotary Clubs haben weltweit viel dazu beitgetragen, dass Kinder in armen Regionen geimpft werden konnten. Wegen der Corona-Pandemie konnten 80 Millionen Kinder nicht gegen Polio geimpft werden – und so gibt es derzeit wieder Ausbrüche, beispielsweise in Afrika und Bangladesch. Aber auch im New Yorker Abwasser konnte das Polio-Virus nachgewiesen werden. Corona hat uns da um Jahrzehnte zurückgeworfen.

Bei welchen Infektionskrankheiten wird man noch lange darauf warten müssen, dass sie besiegt werden?
Wenn der Mensch der alleinige Wirt ist und der Impfstoff vor einer Infektion schützt, können wir das Virus ausrotten. Das ist bei Polio, aber auch bei Masern der Fall. Gegen die größten infektiologischen Killer haben wir aber keinen Impfstoff: HIV, Dengue, Malaria und Tuberkulose zum Beispiel.

Gibt es Mechanismen, die sich wiederholen?
Ja. Der größte Fehler, der immer wieder gemacht wird, ist die Stigmatisierung, Diskriminierung und Verurteilung von Infizierten. Doch der Erreger macht natürlich keinen Unterschied, wen er infiziert. Doch die Menschheit sucht immer Schuldige. Bei der Pest waren es die Juden, bei HIV die Homosexuellen, bei Corona die Chinesen. Anfangs wurden Leuten aus Heinsberg die Autoreifen zerstochen – das ist ganz schlimm.

Welche Herausforderungen stehen der Virologie bevor?
Es gibt schätzungsweise 1,7 Millionen Viren, die wir noch nicht kennen. Rund 400.000 davon können den Menschen krank machen. Und durch die Globalisierung können sie Pandemien auslösen. Entscheidend ist, dass die Wissenschaft diese Viren klassifiziert – denn nur so kann die Medizin dann auch reagieren.

Haben Sie ein Beispiel aus der Praxis?
Im Amazonas-Gebiet wird immer mehr abgeholzt, um Plantagen einzurichten. Das heißt, dass Menschen in Lebensräume eindringen, die vorher beispielsweise Nagern vorbehalten waren. Und diese können dann ganz schnell einen Menschen mit einem Virus infizieren. Da gilt es viel zu erforschen. Klimaschutz und Artenschutz ist am Ende auch ein Schutz vor einer neuen Pandemie.

Gibt es Gefahren, von denen wir noch gar nichts ahnen?
Allerdings. Wir durchlaufen schon jetzt eine „stille Pandemie“ der Antibiotika-Resistenz. Früher konnte man beispielsweise eine Pseudomonas-Infektion, eigentlich ein Pfützenkeim, gut behandeln. Es tritt aber zunehmend eine Multiresistenz auf – und die führt dazu, dass manche Patienten heute daran sterben. Um dieses Problem zu lösen, muss viel in die Forschung investiert werden.

Das Interview führte
Dr. Eva Wodarz-Eichner.