Sport, Knochen und Gelenke

Körperliche Schäden durch langes Sitzen

In der Pandemie hat die Zeit, die Menschen im Sitzen verbringen, deutlich zugenommen. Alleine nach dem ersten Corona-Jahr laut DVK-Gesundheitsreport um durchschnittlich zwei Stunden. Junge Erwachsene verbringen demnach heutzutage mehr als zehn Stunden in sitzender Haltung. Bei Medizinern läuten da die Alarmglocken.

08.09.2022
Bereits bei jungen Menschen kommt es vermehrt zur Fehlhaltung.  Foto: AdobeStock/Photographee.eu Bereits bei jungen Menschen kommt es vermehrt zur Fehlhaltung. Foto: AdobeStock/Photographee.eu

Hohlkreuz, verkürzte Schrittlänge, Steifigkeit: Bewegungsmangel schadet auch Hüfte und Knie. Stundenlanges Sitzen mit gebeugten Gliedmaßen kann längerfristig zu Verkürzungen und sogenannten Kontrakturen, Bewegungs- und Funktionseinschränkungen der Gelenke, führen. Diese wiederum begünstigen schädliche Fehlhaltungen und Fehlbelastungen. Zudem „hungert“ und leidet der Gelenkknorpel. Er wird nämlich nur durch die Pumpbewegungen bei körperlicher Aktivität mit nährender Gelenkflüssigkeit versorgt.
Eine eventuelle Gewichtszunahme verstärkt diese negativen Effekte. Die AE - Deutsche Gesellschaft für Endoprothetik e. V. rät deshalb, Muskulatur und Bänder täglich mehrmals bewusst zu dehnen. Zudem gelte es, Sitzgelegenheit und Sitzposition häufig zu variieren sowie grundsätzlich viel Bewegung in den Alltag zu integrieren. Dies treffe auch auf Patientinnen und Patienten zu, denen der Ersatz ihres Hüft- oder Kniegelenks bevorstünde.
„Durch das stundenlange Verharren in der Sitzposition mit gebeugtem Hüft- und Kniegelenk verspannen und verkürzen sich die beteiligten Muskeln, Sehnen und Faszien“, sagt Professor Dr. med. Karl-Dieter Heller, AE-Präsident und Ärztlicher Direktor der Orthopädischen Klinik am Herzogin Elisabeth Hospital in Braunschweig. Dies könne langfristig zu einer Fehl- und Überbelastung der Gelenke führen. Erste Zeichen für Fehlbelastungen sei etwa eine Verstärkung der natürlichen Krümmung der Lendenwirbelsäule, mit Betonung des Bauches (Hohlkreuz). „Das hat nichts mit ein paar Kilos zu viel zu tun“, so Heller. Vielmehr sind hier die Hüftbeuger durch das ständige Sitzen und Verharren in der Beugeposition im Vergleich zur Gesäß- und Bauchmuskulatur verkürzt. Da die Hüftbeuger auch am Becken ansitzen, kippen diese das Becken unnatürlich nach vorne.“ Gleichzeitig verhindern die verkürzten Hüftbeuger das ausgleichende Überstrecken als natürliche Gegenbewegung zur Gelenkentlastung. Sie führen so zu einer weiteren Verkürzung der Hüftbeuger. Ein Teufelskreis, sagt Heller.
Dies trifft auch auf die Knie zu: durch Dauersitzen verkürzen sich die hinteren Muskelgruppen des Oberschenkels. Hält dieser Zustand länger an, lässt sich das Kniegelenk immer schlechter strecken. Die Entlastung durch eine entsprechende Gegenbewegung sei dann ebenfalls nicht mehr möglich, die Gelenke würden einseitig überlastet, so der Orthopäde und Unfallchirurg.
„Eine Gelenkkontraktur ist neben Vererbung, Unfall, Übergewicht und Fehlstellung ein verstärkender Faktor für Gelenkarthrose“, so Heller. „Eine Kombination dieser Faktoren erhöht das Risiko. Im schlimmsten Fall steht am Ende einer solchen Entwicklung ein Gelenkersatz.“
Durch das Homeoffice kommen neue Belastungen wie etwa weniger Sitzunterbrechungen hinzu: 43 Prozent finden es im Vergleich zum Arbeiten im Büro schwieriger, ihre Sitzzeit zu reduzieren. 59 Prozent der Menschen, die im Homeoffice arbeiten, sagen, dass sie keine Unterstützung von ihrem Arbeitgeber erhalten, um ihre Sitzzeiten zu verringern.
Doch wer sich nicht genügend bewegt, schadet seiner Gesundheit. Zudem schreitet mangelnde Beweglichkeit unbemerkt fort. Dabei helfen schon kleine Maßnahmen: „Es geht nicht darum, den perfekten Stuhl zu finden oder die ganze Zeit zu stehen“, sagt Heller. „Keine Position, die wir zu lange einnehmen, ist gut für uns.“ Vielmehr seien Regelmäßigkeit und Abwechslung wichtig: „Wir sollten jede kleine Unterbrechung im Büroalltag für Dehn- und Kräftigungseinheiten nutzen. Während das Teewasser kocht, kann man etwa den Psoas - den größten Beugemuskel in unserer Hüfte -, durch einen Ausfallschritt nach vorne dehnen. Jeweils 30 Sekunden pro Seite, drei Wiederholungen.“
Das Integrieren von bewusster Bewegung sei auch für Patienten wichtig, die auf ein Ersatzgelenk warten: „Wir beobachten vermehrt eingesteifte Gelenke“, sagt Prof. Dr. med. Carsten Perka, Generalsekretär der AE. „Dies hängt damit zusammen, dass unsere Patienten jetzt Pandemie-bedingt wieder länger auf ihre OP warten und sich der Zustand ihrer Gelenke in der Zwischenzeit weiter verschlechtert. Ein zusätzlicher Bewegungsmangel verstärkt diese Entwicklung.“ Dabei gelte auch für eine Hüft- und Knie-OP: „better in – better out“, so der Ärztliche Direktor des Centrums für Muskuloskeletale Chirurgie an der Charité – Universitätsmedizin Berlin. Der körperliche Zustand vor der OP wirke sich auf das Ergebnis der Implantation eines neuen Hüft- oder Kniegelenks aus. Dies belege auch der aktuell veröffentlichte Jahresbericht des Endoprothesenregisters Deutschland (EPRD). „Wir dürfen das Dauer-Sitzen nicht zur Gewohnheit werden lassen“, sagt Perka, der auch Sprecher des EPRD ist. „Wir sind nicht für ein eingesperrtes Leben wie im Zoo gemacht.“ (red)