Gehirn, Psyche und Verhalten

„Wir haben vieles noch nicht verstanden bei der Depression“

Seit über 30 Jahren engagiert sich Prof. Ulrich Hegerl für die Erforschung von Depressionen. Im Interview spricht er über die Tücken dieser Krankheit, den Umgang mit ihr und warum die Pandemie-Zeit für Betroffene besonders schlimm war.

08.09.2022
DIe Zahl der Menschen, die sich psychiatrische Hilfe suchen, hat sich in den letzten Jahren deutlich erhöht.  Foto: AdobeStock/zhitkov DIe Zahl der Menschen, die sich psychiatrische Hilfe suchen, hat sich in den letzten Jahren deutlich erhöht. Foto: AdobeStock/zhitkov

Die Häufigkeit der Depression hat sich wahrscheinlich gar nicht großartig verändert. Was sich allerdings deutlich geändert hat, ist die Zahl der Menschen, die sich Hilfe holen und eine Diagnose erhalten. Vor 40 Jahren lag die Zahl der Frühverrentungen aufgrund psychischer Erkrankungen bei neun Prozent, jetzt sind es 42 Prozent. Mehr Menschen mit psychischen Erkrankungen erhalten eine Diagnose, kommen aus ihrer Isolation und werden behandelt. Dies dürfte die Erklärung dafür sein, dass in den selben 40 Jahren die Zahl der Suizide von 18.000 auf 9.000 abgenommen hat, eine wunderbare Entwicklung.

Der Wissensstand hat sich durchaus gebessert. Die meisten Menschen erkennen mittlerweile, dass Depressionen eine ernstzunehmende und eigenständige Krankheit des Gehirns sind. Hat man das Pech, die Veranlagung dazu zu haben, dann rutscht man immer wieder in diesen Zustand hinein, auch wenn von außen betrachtet keine ungewöhnlichen Belastungen vorliegen. Dass Depressionen weit mehr sind als eine Reaktion auf schwierige Lebensumstände sind, wird von den Menschen immer besser verstanden.

Durch die Pandemie-Situation hatten mehr Menschen Sorgen, Ängste, Bedrückung oder häuslichen Stress. Das sind aber normale menschliche Reaktionen auf die Lebensumstände und keine depressive Erkrankung und bei Menschen ohne eine entsprechende Veranlagung führen diese auch nicht zu einer depressiven Erkrankung. Allerdings haben die Corona-Maßnahmen auf Menschen in einer depressiven Krankheitsphase oder mit einer entsprechenden Veranlagung teilweise katastrophale Auswirkungen gehabt. Zum einen, weil sich die Qualität der medizinischen Versorgung in dieser Zeit verschlechtert hat. So sind zum Beispiel stationäre Behandlungen abgesagt worden, Ambulanzen haben ihre Angebote heruntergefahren, im ersten Lockdown waren viele Betroffene durch die Berichterstattung so verunsichert und verängstigt, dass sie mit ihrem Leiden gar nicht zum Arzt gegangen sind. Zum anderen haben die Pandemie-Maßnahmen dazu geführt, dass die Menschen weniger Sport gemacht haben, mehr Zeit im Bett verbracht haben und durch den unstrukturierten Tag zu Hause vermehrt gegrübelt haben. Von diesen drei Faktoren ist bekannt, dass ganz spezifisch bei Depression den Krankheitsverlauf negativ beeinflussen.

Im Deutschland-Barometer Depression, einer repräsentativen Bevölkerungsbefragung der Stiftung, gaben fast die Hälfte der von Depressionen betroffenen an, dass sich ihr Zustand wegen der Maßnahmen deutlich verschlechtert hat. Sie berichteten über Rückfälle, Zunahme der Depressionsschwere oder das Auftreten von Suizidgedanken. Insgesamt reden wir hier von mehr als zwei Millionen Menschen, bei denen sich die schwere Erkrankung Depression verschlechtert hat. Das ist eine Katastrophe, eine stille Katastrophe.

Es mussten unter hohem Zeitdruck viele schwierige Entscheidungen getroffen werden und ich maße mir nicht an, zu sagen, was richtig oder falsch war. Wichtig ist mir aber, dass bei so einem Bevölkerungsexperiment auch unerwünschte Wirkungen der Maßnahmen mit großer Sorgfalt und Systematik erfasst werden. Nur so kann man sicher sein, mehr Leid und Tod verhindert als verursacht zu haben, nur so kann man aus dem Geschehen lernen und zukünftige Maßnahmen optimieren. Die Folgen der Maßnahmen für Menschen mit Depressionen sind hier nur ein Mosaikstein. Ich kann leider nicht erkennen, dass dies mit ausreichender Ernsthaftigkeit erfolgt ist und erfolgt. Meine Sorge ist, dass das Interesse der Entscheidungsträger, auch die negativen Folgen ihres Handelns dokumentiert zu sehen, gebremst ist. Dies zu tun wäre aber verantwortungsvolles Handeln und würde, so glaube ich, am Ende das Vertrauen in die Politik stärken.

Wir haben vieles noch nicht verstanden bei der Depression. Zum Beispiel wissen wir den genauen Krankheitsmechanismus nicht, auch den genauen Wirkmechanismus kennen wir nicht. Es gibt in der Depression viele Änderungen der Hirnfunktion, welche davon aber Ursache und welche Folge der Depression sind, ist oft schwer zu beantworten. Es gibt aber auch in kleinen Schritten Verbesserungen, zum Beispiel bei den Medikamenten. Wir haben heute eine große Auswahl an Antidepressiva, sodass bei den meisten Betroffenen eine medikamentöse Behandlung gefunden wird, die wirkt und auch vertragen wird. Auch bei der Psychotherapie gibt es Weiterentwicklungen, z.B. digitale Programme, die Patienten beim Umgang mit ihrer Erkrankung unterstützen.

Depressionen sind häufige Erkrankungen und die Schwere ist daran zu ermessen, dass bei Menschen mit dieser Diagnose die Lebenserwartung im Schnitt um zehn Jahre reduziert ist. Ein großer Teil der Frühberentungen und AU-Tage geht auf Depressionen zurück. Das große Leid ist gepaart mit enormen Kosten.

Wenn sich jemand völlig ändert, sich plötzlich zurückzieht, an nichts mehr Freude hat, permanent erschöpft ist, aber nicht schlafen kann, von Schuldgefühlen geplagt wird, Gewicht verliert oder finstere Gedanken äußert, so können das Hinweise auf die Krankheit sein. Angehörige oder Freunde sollten dann das Gespräch mit dem Betroffenen suchen. Haben Sie den Eindruck, dass die Hoffnungslosigkeit und das Leiden über eine nachvollziehbare Reaktion auf die Bitternisse des Lebens hinausgeht, so ist das Entscheidende, die Person zu motivieren, sich professionelle Hilfe zu holen. Die drei Anlaufstellen dafür sind Psychiater als Fachärzte für psychische Erkrankungen, Psychologische Psychotherapeuten und Hausärzte. Eine Depression muss wie jede schwere Erkrankung konsequent behandelt werden.

Der Informationsstand zu dieser Erkrankung sollte verbessert werden und damit auch das Stigma reduziert werden. Depressionen sind nicht Folge persönlichen Versagens, sondern einer Veranlagung, die vererbt, aber auch durch frühkindliche Traumatisierungen erworben sein kann. Depressionen sind mehr als eine Reaktion auf belastende Lebensumstände. Dann bräuchten wir mehr Psychiater, da es inakzeptabel ist, dass ein schwer depressiv und möglicherweise suizidgefährdeter Mensch viele Tage warten muss, bis er einen Facharzttermin bekommt.

Das Interview führte
Daniel Holzer