Gehirn, Psyche und Verhalten

Unsicher, überfordert, orientierungslos – Macht uns Arbeit psychisch krank?

Psychische Erkrankungen nehmen seit Jahren zu. Welche Rolle spielt dabei die Arbeitswelt? Bianca Lorenz befragte dazu Oberärztin Dr. Eva Rothermund von der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie des Universitätsklinikums Ulm.

21.09.2020
Belastungen im Job nehmen weiter zu. Daran sind nicht nur Stress und die Verdichtung der Arbeit ist schuld, sondern auch die überhöhte Erwartung, sich dort selbst zu verwirklichen oder die Angst, den Job zu verlieren. Viele Arbeiter und Angestellte vemissen auch die nötige Wertschätzung.	 Foto: AdobeStock/Kaspars Grinvalds Belastungen im Job nehmen weiter zu. Daran sind nicht nur Stress und die Verdichtung der Arbeit ist schuld, sondern auch die überhöhte Erwartung, sich dort selbst zu verwirklichen oder die Angst, den Job zu verlieren. Viele Arbeiter und Angestellte vemissen auch die nötige Wertschätzung. Foto: AdobeStock/Kaspars Grinvalds

Frau Dr. Rothermund, macht uns Arbeit heute psychisch krank?
Nein, das kann man so pauschal nicht sagen. Richtig ist, dass psychische Erkrankungen in der Gesellschaft mehr wahrgenommen werden. Dadurch, dass Menschen viel Zeit des Tages mit Arbeit verbringen, trägt Beschäftigung häufig erstmal zu psychischem Wohlbefinden bei. Logischerweise machen sich belastende Arbeitsbedingungen auch bemerkbar. Der DGB-Index Gute Arbeit zum Beispiel misst zwar seit sieben Jahren etwa gleichbleibende Werte. Doch machen heutzutage zwei Drittel aller Beschäftigten Interaktionsarbeit, etwa in der Pflege, im Krankenhaus, in der Schule oder im Callcenter. Die Arbeit mit Kundschaft oder anderen Personengruppen ordne ich als emotional herausfordernd ein. Zum anderen fallen psychische Erkrankungen im Kontakt mit anderen Menschen meist mehr auf.
Die Arbeit als einzige Hauptursache hat nur einen Anteil von 20 Prozent. Persönliche Belastungen liegen mit 20 Prozent gleichauf. Beim überwiegenden Anteil von 60 Prozent der von psychischen Erkrankungen Betroffenen ist eine Mischung aus privaten und beruflichen oft die Ursache.

Was sind die häufigsten Risikofaktoren im Job?
Die Erwerbsarbeit spielt oft eine zentrale Rolle in unserem Leben, wenn es um die Erfahrung der Selbstwirksamkeit geht. Wir werden gebraucht und wir bewirken etwas. Das sind positive Erfahrungen. Umgekehrt führen wenig Einfluss auf die Arbeitsmenge oder auf Entscheidungen bei gleichzeitig hohen Anforderungen zu frustrierenden Erlebnissen. Wenn dann Konflikte mit dem Chef oder den Kollegen dazukommen, kann es richtig schwierig werden. Das Risiko für psychische und psychosomatische Erkrankungen steigt.
Besondere Anforderungen haben auch Menschen in Schichtarbeit. Durch den aktuellen Pflegenotstand müssen Beschäftigte oft sehr kurzfristig einspringen – das macht gemeinsame Planungen mit Partner und Familie oft unmöglich.
Und natürlich spielen die digitalen Möglichkeiten eine große Rolle: Wir müssen permanent viele Informationen schneller aufnehmen und verarbeiten, sind überall erreichbar. Viele Arbeitnehmer fühlen sich verpflichtet oder sind von sich heraus so motiviert, dass sie dadurch rund um die Uhr im Dienst sind. Da fällt die wichtige Trennung von Phasen der Aktivität und Entspannung natürlich schwerer.

Wie erklären Sie sich diese überladene Sicht auf die Arbeit?
Die Wahrnehmung von Arbeit schwankt heute oft zwischen absoluter Erfüllung und absoluter Erschöpfung. Oft verstehen wir Arbeit nicht mehr nur als reinen Broterwerb, sondern als etwas mit großer Sinnhaftigkeit. Der eigene Anspruch an den Job und die persönliche Motivation sind entsprechend hoch. Die Arbeit soll uns Spaß machen und uns bei der Selbstverwirklichung helfen. Und dafür ist man bereit, die Grenzen zwischen dem beruflichen und privaten Raum einzureißen – bis hin zum Burnout. Meist leiden die Betroffenen dabei unter depressiven Symptomen oder Angstsymptomen.

Inwiefern hat die Corona-Pandemie die Situation verschärft?
Die Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes, Unsicherheit und Orientierungslosigkeit spielen bei der Entstehung von psychischen Erkrankungen im beruflichen Umfeld ebenfalls eine große Rolle. Und durch Corona haben viele Menschen, etwa in der Gastronomie und Hotellerie, Messebauer aber auch Solo-Selbstständige, wie Künstler, freie Journalisten u.a., ihre Arbeit und damit ihr Einkommen verloren. Wir stehen hier wissenschaftlich noch am Anfang. Noch gibt es dazu keine zuverlässigen Zahlen über den Langzeiteffekt dieser beruflichen Ausnahmesituation.

Worum geht es bei Ihrem Forschungsprojekt der psychosomatischen Sprechstunde vor Ort in den Betrieben? Welches Ziel verfolgen Sie damit?
Psychische Erkrankungen werden oftmals erst dann diagnostiziert, wenn sie bereits weiter fortgeschritten sind. Das hat vielfältige Gründe: Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen suchen sich aus Scham selten ärztliche oder psychologische, psychotherapeutische Hilfe. Andere wollen gehen, finden aber ambulant nicht sofort die richtige Therapeutin oder den richtigen Therapeuten. Manche wiederum ignorieren die Notwendigkeit einer Therapie.
Unsere neue Studie setzt genau dort an. Ziel ist es, Betroffene früher zu erreichen, den Arbeitsplatz mit in die Problemanalyse einzubeziehen, aber auch in den Genesungsprozess. Wir wollen sie motivieren, Hilfe anzunehmen. Und wir unterstützen und begleiten sie auch auf dem Weg dorthin. Die Psychotherapie beginnt quasi am Arbeitsplatz.
Zwar gibt es solche Angebote bereits seit einigen Jahren in Deutschland, eine systematische Beforschung unter strengen wissenschaftlichen Kriterien steht jedoch noch aus. Wir wollen herausfinden, welchen Effekt diese Angebote für die Betroffenen haben und auch wie man die Sozialsysteme dadurch entlasten und Kosten sparen kann. (bibi)