Frauen- und Männergesundheit

Ungerechtigkeit durch Gleichbehandlung

Gendern hat sich in den vergangenen Jahren zu einem Trendthema entwickelt. Derzeit geht es in der öffentlichen Debatte vor allem um eine gendergerechte Sprache, die alle Geschlechter gleichermaßen einschließt. In der Medizin ist hingegen die Gleichbehandlung das Problem, das für Ungerechtigkeit sorgt. Prof. Dr. Gertraud Stadler, Leiterin des Instituts für Geschlechterforschung in der Medizin (GiM) an der Berliner Charité, erklärt, warum sich daran etwas ändern muss, damit in der Gesundheitsversorgung kein Geschlecht mehr benachteiligt wird.

24.09.2021
 Foto: AdobeStock/Visual Generation Foto: AdobeStock/Visual Generation
Foto: Alexander Sell

Dr. Clara Park
Radiologin
RNS Gemeinschaftspraxis
Wiesbaden



Wir verstehen darunter eine geschlechtersensible Medizin und Gesundheitsversorgung, die die Geschlechterunterschiede mitbedenkt. Das zieht sich durch Forschung, Lehre und medizinische Praxis. Es reicht von der Prävention über die Behandlung bis zur Nachsorge. In Deutschland stehen wir da immer noch am Anfang.

Die Charité hat zur Zeit das einzige Institut mit einer vollen Professur, das sich mit Gendermedizin beschäftigt. Es gibt neuerdings eine zweite Professur in Teilzeit in Bielefeld, die gerade erst besetzt wurde. Das heißt, in Deutschland gibt es noch kaum Institutionen, die das Thema vorantreiben. Andere Länder sind da schon weiter. In den USA, in Kanada und in Großbritannien existieren viel mehr Institutionen, die sich mit geschlechter- und diversitätssensibler Gesundheitsversorgung beschäftigen. Auch auf struktureller Ebene passiert dort mehr, zum Beispiel müssen sich Universitäten zertifizieren lassen, ob sie geschlechtersensibel agieren und gestaltet sind.

Prof. Dr. Stadler:
Zunächst hat man gedacht, das wäre ein Selbstläufer, indem der Mensch an sich im Mittelpunkt steht. Aber dann wurde immer deutlicher, dass die Geschlechterunterschiede dabei oft unter den Tisch fallen. Es wird zu oft in Stereotypen gedacht. Geht es zum Beispiel um Themen wie Gewichtsreduktion, hat man eher eine Frau im Kopf. Deswegen sind Maßnahmen wie Gruppeninterventionen zur Gewichtsabnahme eher auf Frauen ausgerichtet und funktionieren für Männer nicht unbedingt so gut. Beim Herzinfarkt denkt man hingegen an einen älteren Mann. Dadurch suchen sich betroffene Frauen selbst oft zu spät Hilfe und werden dann schlechter diagnostiziert, weniger gut behandelt und sterben in der Folge häufiger an Herzinfarkten. Auch bei ADHS scheint es so, dass Frauen unterdiagnostiziert werden und die Behandlungen nicht so gut greifen.

Prof. Dr. Stadler:
Ein spannendes Beispiel ist der Kinderwunsch. Da gibt es viel Forschung zu den Frauen, aber nur wenig zu den Männern. Dadurch wissen wir zum Beispiel nur wenig darüber, was Männer tun können, um ihre Fruchtbarkeit zu verbessern. Dass es hier so wenige Ansatzpunkte gibt, schadet letztlich sowohl den Männern als auch den Frauen.

Ich formuliere es mal vorsichtig: Frauen, Männer und nichtbinäre Personen sind alle häufig nicht optimal versorgt. Zwar zeigt sich, dass Frauen generell ein höheres Risiko für chronische Erkrankungen haben und die Versorgung da eher suboptimal ist. Wer unter dem Strich am stärksten benachteiligt ist, lässt sich aus meiner Sicht aber nicht sagen. Ich denke,
es gibt für alle Geschlechter einen großen Bedarf, etwas zu verbessern.

In Deutschland fehlt es vor allem an Daten, um geschlechterspezifische Aspekte für Männer, Frauen und nichtbinäre Personen besser untersuchen zu können. Sie sind die Basis, um in der Forschung therapeutische und präventive Maßnahmen zu testen und zu entwickeln, die auf die Geschlechtersensibilität zugeschnitten sind. Es geht aber nicht nur um neue Maßnahmen, auch bei bisherigen Interventionen müssen wir schauen, ob sie bei allen Geschlechtern gleich gut funktionieren. Insgesamt brauchen wir in der öffentlichen Gesundheit, in der Politik und nicht zuletzt bei den Patienten ein besseres Bewusstsein dafür, dass es wichtig ist, Behandlungen auf das Geschlecht zuzuschneiden.

Auf jeden Fall. An der Charité sind wir da schon relativ weit. Die Geschlechterforschung ist in das Studium fest integriert. Studenten lernen hier vom ersten Tag an, dass es wichtig ist, Geschlechterunterschiede mitzudenken. Aber das ist noch eine Ausnahme in Deutschland und leider nicht Standard.

Es tut sich was, da das Bewusstsein für das Thema gewachsen ist. Dass dabei auch die Medizin eine wichtige Rolle spielt, wurde jüngst durch die Corona-Pandemie noch einmal deutlich. Männer haben ein höheres Risiko für eine schwere Erkrankung und auch ein höheres Sterberisiko. Frauen hingegen sind vermutlich öfter von Langzeitfolgen betroffen und auch die Schulschließungen wirken sich stärker auf sie aus. Durch solche Erkenntnisse bekommt die Gendermedizin mehr Aufmerksamkeit.

Prof. Dr. Stadler:
Es herrscht manchmal noch viel Unsicherheit. Wenn ich mich zum Beispiel Kollegen als Leiterin in der Geschlechterforschung vorstelle, bekomme ich häufig zu hören: Oh, dann muss ich jetzt aufpassen, was ich sage. Andererseits gibt es eine große Offenheit und Einigkeit in dem Ziel, alle Menschen bestmöglich zu behandeln, und das sorgt dafür, dass sich auf dem Gebiet etwas bewegt. Das ist wichtig, denn letztlich ist es ein Ge
meinschaftsprojekt. Wir als einzelnes Institut können die Mammut
aufgabe, die Geschlechter besser zu berücksichtigen, nicht alleine bewältigen.

Das Interview führte
Daniel Holzer