Ernährung und Gewichtskontrolle

Seelische Belastung und Essverhalten in der Pandemie

Eine repräsentative Umfrage hat ergeben, dass 35 Prozent der Befragten seit Beginn der Corona-Pandemie deutlich zugenommen haben. Mediziner sind alarmiert und befürchten einen Anstieg unter anderem von Diabetes Typ 2.

08.09.2022
Essen ist kein Trost in schwierigen Lagen.  Foto: AdobeStock/Racle Fotodesign Essen ist kein Trost in schwierigen Lagen. Foto: AdobeStock/Racle Fotodesign

Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Technischen Universität München (TUM) haben untersucht, ob sich Ernährungsverhalten und Körpergewicht von Erwachsenen nach mehr als zwei Jahren Pandemie verändert haben. Es zeigt sich: 35 Prozent der Befragten haben seit dem Beginn der Pandemie an Gewicht zugenommen. Allerdings haben auch 15 Prozent der Erwachsenen seit Beginn der Corona-Krise zum Teil deutlich abgenommen.
Das Else Kröner-Fresenius-Zentrum für Ernährungsmedizin (EKFZ) der TUM hat gemeinsam mit dem Meinungsforschungsinstitut Forsa 1000 nach einem systematischen Zufallsverfahren ausgewählte Personen zwischen 18 und 70 Jahren in Deutschland repräsentativ befragt. Das Hauptaugenmerk der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler liegt auf der Psyche: Wie hängt das Ernährungsverhalten mit dem seelischen Zustand zusammen? 42 Prozent der Befragten haben sich im letzten Jahr etwas, und 20 Prozent sehr durch die Veränderungen im Zusammenhang mit der Corona-Situation seelisch belastet gefühlt.
Die Mehrheit der Befragten, rund zwei Drittel, gibt an, dass sich ihr Ernährungsverhalten seit Beginn der Pandemie nicht grundlegend verändert habe. Jedoch geben Befragte, die sich durch die Corona-Situation belastet gefühlt haben, häufiger an, dass sich ihr Ernährungsverhalten verändert hat. „Die Veränderung geht in eine aus gesundheitlicher Perspektive unvorteilhafte Richtung“, sagt Professor Dr. Hans Hauner, Ernährungsmediziner an der TUM und Leiter des EKFZ.
35 Prozent aller Befragten geben an, dass sie im Vergleich zu der Zeit vor der Corona-Pandemie zugenommen haben – im Durchschnitt 6,5 Kilogramm. Dass sich ihr Gewicht erhöht habe, geben 30- bis 44-Jährige und formal höher Gebildete überdurchschnittlich häufig an. Dies gilt auch für Befragte, die sich weniger als vor der Corona-Pandemie bewegt haben, sowie für diejenigen, die sich im vergangenen Jahr durch die Pandemie seelisch belastet gefühlt haben.
Ein knappes Drittel der Befragten gibt an, mehr und häufiger zu essen. Dabei handelt sich dann meist um Lebensmittel wie Süßwaren, süße Backwaren, Knabberartikel oder Fastfood. Diese ungünstige Speisenwahl war bei den Erwachsenen, die sich psychisch belastet fühlten, auffällig häufiger als bei den Personen ohne Stressbelastung. Die psychische Belastung geht zwar mit einer Änderung des Essverhaltens einher, allerdings ernähren sich der Umfrage zufolge auch 20 Prozent der seelisch belasteten Befragten gesünder als vorher.
„Leider haben es viele Menschen in der Corona-Pandemie nicht geschafft, ihr Gewicht im Griff zu behalten“, sagt Ernährungsmediziner Hauner. Er befürchtet, dass es dadurch in den kommenden Jahren zu einem Anstieg gewichtsabhängiger und lebensstilbedingter Krankheiten kommen wird. „Es ist damit zu rechnen, dass wir demnächst einen Anstieg der Neuerkrankungen von Typ-2-Diabetes sehen werden.“ Hauner empfiehlt als kurzfristige Gegenmaßnahme, die Menschen über diese Zusammenhänge aufzuklären und bei Wunsch konkrete Hilfe anzubieten. „Viele Menschen mit einem Gewichtsproblem benötigen Hilfe von außen. Die Gesundheitspolitik könnte Kampagnen auf den Weg bringen, um Menschen zu aktivieren.“
15 Prozent der Befragten haben ihr Gewicht reduziert – im Mittel um 7,9 Kilogramm. „Das deckt sich mit den Ergebnissen anderer Studien“, erklärt Professor Dr. med. Martina de Zwaan, Leiterin der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie an der Medizinischen Hochschule Hannover. „Dies kann auf eine gesündere Lebensweise hindeuten: Das Leben war weniger hektisch, die Menschen hatten mehr Zeit, selbst zu kochen und sich mit gesunder Ernährung zu beschäftigen.“
Auffällig ist, dass ein hoher Anteil der jungen Erwachsenen zwischen 18 und 29 Jahren (19 Prozent) und der Teilnehmenden mit einem Body-Mass-Index von weniger als 20 (18 Prozent) abgenommen haben. „Es gibt auch Studien, die deutlich zeigen, dass während der Pandemie Essstörungen zugenommen haben“, sagt de Zwaan. Dies wird auf die geringere Möglichkeit, Sport zu treiben, den Verlust von gewohnten und haltgebenden Strukturen, die soziale Isolation, eine generelle Unsicherheit, eine Zunahme von Depressivität und psychischer Belastung, aber auch auf einen möglicherweise vermehrten Konsum sozialer Medien und damit häufigere Konfrontation mit Schlankheitsidealen und Gewichtsstigmata zurückgeführt.
Aufgrund der unterschiedlichen Verhaltensmuster in der Corona-Pandemie raten beide Experten zusätzlich zu besserer Aufklärung und insbesondere zu individuellen Lösungen durch Ernährungsberatung. (red / eva)