Augen, Nase und Ohren

„So laut kann Zeitung sein“

Ein Hörgerät ist für viele Jüngere noch immer ein Tabu. Dabei kann es Menschen mit massiver Hörschwäche eine neue Welt eröffnen. VRM-Redakteur Olaf Ellrich berichtet über seine Erfahrungen.

23.12.2020
Das Rascheln des Papiers ist für Olaf Ellrich ein völlig neues Hörerlebnis.  Foto: Olaf Ellrich Das Rascheln des Papiers ist für Olaf Ellrich ein völlig neues Hörerlebnis. Foto: Olaf Ellrich

Über ein halbes Jahrhundert hörte ich auf dem linken Ohr so gut wie nichts. „Ja und, dann ist das halt so“, dachte ich bis kurz vor meinem 56. Geburtstag. Doch dann bekam ich einen Hörsturz und ging zum Ohrenarzt. Nach dem Hörtest sagte er: „Auf dem linken Ohr hören Sie nur 55 Prozent“. Mir wurde mulmig. Weitere Untersuchungen bestätigten schließlich, was ich schon ahnte: Das Problem ist angeboren.

Mit einem Rezept, gemischten Gefühlen und einer gehörigen Portion Skepsis ging ich zum Hörgeräteakustiker. „Da gehen doch nur Senioren hin“, dachte ich. Doch weit gefehlt. Schon beim ersten Besuch sah ich dort auch jüngere Leute. Der Termin zum Aussuchen des passenden Modells und zum „Maßnehmen“ war schnell vereinbart.
Der Hörgeräteakustiker präsentiere mir drei Modelle in unterschiedlicher Größe. Eines davon gefiel mir besonders. Das Gerät ist von außen nur sichtbar, wenn man weiß, dass es im Ohr steckt.

Das Prozedere bis zum ersten Aha-Hörerlebnis verlief unspektakulär. Es wurde ein Abdruck vom linken Ohr (Gehörgang) genommen und ich wartete ungeduldig zehn Tage bis zum zweiten Termin.
Wie wird es sein, erstmals mit beiden Ohren – also richtig Stereo – zu hören? Ich nehme das Ergebnis vorweg: Eine neue Lebensqualität kam in meinen Alltag. An jenem Nachmittag zeigte mir der Spezialist, wie das Gerät gehandhabt wird. Er modifizierte die Einstellungen nach meinen Wünschen und drosselte die Leistung auf 80 Prozent. „Das wird für die erste Phase vollkommen ausreichen. Ihr Gehirn muss sich erst an die neuen Umstände gewöhnen.“ Und tatsächlich: Mein erster Spätnachmittag und Abend in der Riege der „Normalhörenden“ war eine Sensation! Gespräche am Nachbartisch kamen deutlicher an. Ich musste mich nicht mehr nach links wenden, um anderen zuzuhören. Mein bestes Erlebnis war, dass meine Frau erstmals in unserer 31-jährigen Ehe links neben mir gehen und Rad fahren konnte und wir uns dennoch unterhalten konnten.

Allerdings legte sich die Begeisterung am nächsten Tag. Für mich eine herbe Enttäuschung! Das – für mich – überlaute Klappern der Tastatur, laute Stimmen im Büro, Toilettenspülung, fließendes Wasser ... „Nein“, dachte ich, „das mit uns wird nichts. Ich gebe das Gerät direkt zurück.“ Für mich klangen die Umwelt und vor allem meine Stimme, als ob ich mit einer Blechschüssel auf dem Ohr in einer Waschküche stehe. Ein Anruf beim Hörakustiker, ein kurzfristiger Termin – und das Gerät war neu modifiziert. Danach hörte ich wesentlich besser.

Die Tage bis zum nächsten Termin erlebte ich als Achterbahnfahrt. Das Geräusch des Blinkers, an mir vorbeifahrende Autos, das Rücken von Metallstühlen – alles war laut, sehr laut. Ab diesem Zeitpunkt war mir klar, warum meine Frau sich immer beschwerte: „Raschle doch bitte nicht so mit der Zeitung!“ Nun hörte auch ich dieses Geräusch. Es ist in der Tat sehr laut!
Einen weiteren Meilenstein für Ohr und Gehirn stellte die erneute Modifizierung des Geräts auf über 80 Prozent seiner Leistung dar. Freute ich mich noch am ersten Tag darüber, dass ich Gesprächen am Nachbartisch lauschen konnte, so war das im Vergleich mit dem neuen Zustand gar nichts.

Unwahrscheinlich für mich, alltäglich für andere: Ich musste, ob ich wollte oder nicht, Unterhaltungen über drei Tische hinweg anhören.
Von da an begriff ich, dass Ungeduld und Skepsis unangebracht sind. Das Hören stellte sich für mich als Lernprozess mit all seinen Höhen und Tiefen dar. Daheim hören wir sehr gerne Jazz. Instrumente wie Piano, Kontrabass und der Besen des Schlagzeugers waren für mich und meine Ohren eine Offenbarung. Kurzum: Ich hörte alle Musikstücke neu. Allerdings wendete ich mich auch von bisher gemochten Gesangskünstlerinnen ab. „Was, das hat mir bisher gefallen?“ Zu schrill sang da die eine oder andere. Grund dafür sei, so der Hörakustiker, nicht die Lautstärke, sondern der Frequenzbereich. Ja, da trennt sich musikalisch die Spreu vom Weizen.
Das Hörgerät, das ich trage, ist in drei Stufen modulierbar. Innerhalb dieser Stufen gibt es Technik-Levels, bei denen sich die Anzahl der Frequenzkanäle unterscheidet – je höher das Level, umso mehr Kanäle sind vorhanden.

Diese Einstellung begann bei mir mit dem mittleren Level. Da ich das Gefühl hatte, dass im Sprachverständnis noch „Luft nach oben“ war, wählte ich nach einigen Wochen das höchst mögliche Level. Der Unterschied ist sehr deutlich zu hören. Auch das Empfinden einiger Frequenzen verbesserte sich deutlich. Es ist seitdem wesentlich differenzierter! Während eines Corona-konformen Konzertes erlebte ich erstmals in meinem Leben, dass Musik raumfüllend ist.
Nach einer sechswöchigen Probezeit habe ich entschieden, dass dieses Hörgerät mich für die weiteren Jahrzehnte meines Lebens begleiten wird. (ole)