Alters- und Palliativmedizin

„Angehörige werden oft vergessen“

Bei einer unheilbaren, fortschreitenden Erkrankung stehen meist nur die Betroffenen im Fokus. Dabei bräuchten auch ihre Angehörige dringend Hilfe. Psychoonkologin Dipl.-Soz. Anneke Ullrich vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) sagt, was Palliativmedizin hier leisten kann.

06.04.2020 - Bianca Lorenz
Freunde und Familie sind ein wichtiges emotionales Fundament in der Betreuung.	Foto: AdobeStock/Ake1150 Freunde und Familie sind ein wichtiges emotionales Fundament in der Betreuung. Foto: AdobeStock/Ake1150

Frau Ullrich, Sie untersuchen die Situation der Angehörigen am UKE auch wissenschaftlich. Worauf liegt aktuell Ihr Fokus?
In Hamburg besteht seit 2017 eine Stiftungsprofessur für Palliativmedizin der Hamburger Krebsgesellschaft zum Schwerpunktthema Angehörigenforschung. Das ist einzigartig in Deutschland. Ziel ist es herauszufinden, wo die besonderen Belastungen und Bedürfnisse von Angehörigen liegen und was sie innerhalb der Palliativversorgung in welcher Phase brauchen. Wenn wir ein besseres Verständnis von der Situation der Angehörigen haben, können wir viel besser darauf reagieren und zum Beispiel spezifische Unterstützungsangebote entwickeln.

Welche ersten Ergebnisse Ihrer wissenschaftlichen Untersuchungen gibt es?
Unsere Untersuchungen besagen beispielsweise, dass ungefähr ein Drittel der Angehörigen Anzeichen von Angst und Depressivität zeigen, die weiter abgeklärt werden sollten. Viele ihrer Bedürfnisse beziehen sich auf das Wohlergehen des Erkrankten, aber auch mehr Informationen, praktische und emotionale Unterstützung in der Versorgung. Trotz dieser Situation nehmen viele Angehörige keine professionelle Hilfe für sich in Anspruch, etwa weil sie keine Angebote kennen oder deren Mehrwert nur schwer einschätzen können.

Wie helfen Sie als Psychoonkologin Angehörigen jetzt schon in der Praxis?
Auf der Palliativstation, auf der ich arbeite, kümmert sich ein ganzes Team aus verschiedenen Berufsgruppen um den erkrankten Menschen und seine Angehörigen. Als Psychoonkologin spreche ich mit Angehörigen zum Beispiel über ihre Ängste und Sorgen, den Umgang mit Unsicherheiten, das Thema Abschied und Verlust oder auch über das, was sie sich noch für die verbleibende Zeit wünschen. Oft geht es auch darum, zu würdigen, was Angehörige in ihrer Rolle leisten und wie schwer das sein kann. Bei Bedarf begleite ich Angehörige auch in der Situation, wenn der nahestehende Mensch verstirbt oder wenn sie die Nachricht über das Versterben erhalten haben. Wir bieten auch regelmäßig Angebote für Angehörige an, zum Beispiel Informationsveranstaltungen, Erinnerungsstunden oder ein Trauercafè.

Das Thema Tod ist in den Gesprächen also sehr präsent?
Ja, das stimmt. Doch im gleichen Maße begegnet mir auch das Thema Lebendigkeit. Henning Mankell sagte einmal: „Menschen, die bald sterben, möchten spüren, dass sie noch leben“. Das kann ich nur bestätigen. Schwerkranke und Sterbende möchten bis zum letzten Atemzug als lebendig wahrgenommen werden. Dazu kommt, dass die Seele angesichts einer solchen Lebenssituation Schwerstarbeit leistet und deshalb Pausen braucht. Und so gibt es bei meiner Arbeit auch Momente von Leichtigkeit, wo viel Energie im Raum ist und Pläne geschmiedet werden. Für Angehörige ist es manchmal gar nicht so leicht zu verstehen, dass beides nebeneinanderstehen kann: die Auseinandersetzung mit Sterben und Tod, aber auch die Wahrnehmung von Lebenssinn und Lebenswille.

Welche Vorbehalte gibt es gegenüber der Palliativmedizin?
Leider ist mit dem Begriff oft immer noch der nahende Tod verbunden. Das ist ein Vorurteil, das Erkrankte und ihre Angehörigen häufig davon abhält, entsprechende Angebote zu suchen bzw. anzunehmen. Dabei setzt die Palliativmedizin bereits sehr viel früher an als in der letzten Lebensphase: Schon ab Diagnosestellung einer unheilbaren Krankheit kann es sinnvoll sein, die Palliativmedizin mit ins Boot zu holen. Im Mittelpunkt steht die Linderung von physischem, psychosozialem und spirituellem Leid. Ziel ist es, dem erkrankten Menschen und seinen Angehörigen eine möglichst gute Lebensqualität zu ermöglichen. Palliativmedizin ist also nicht nur eine „Lebens-Ende-Begleitung“.
Ein weiteres Missverständnis ist, dass die Palliativmedizin angeblich nur für krebskranke Menschen da ist. Doch auch Menschen mit einer schweren Nieren-, Herz- oder Lungenerkrankung im späten Stadium können von der Palliativmedizin profitieren.
Wichtig ist, dass sie ein Gefühl dafür bekommen, was Palliativmedizin überhaupt bedeutet und wissen, welche Möglichkeiten es hier gibt. Hier ist noch viel Aufklärungsarbeit gefragt.

Was machen Sie, wenn jemand trotzdem nicht über den Tod sprechen will?
Niemand muss mit mir über den Tod sprechen. Aber ich biete das Gespräch darüber sowohl dem erkrankten Menschen als auch seinen Angehörigen an und frage: Beschäftigt Sie das? Manche winken ab und sagen: „Ich möchte nicht darüber sprechen“. Andere nehmen das Angebot an und nutzen die Gelegenheit, über das Thema, das in der Gesellschaft immer noch häufig ein Tabu ist, zu sprechen. Manchmal auch, weil sie es ihrem Umfeld nicht zumuten mögen oder Angst haben, ihre Angehörigen zusätzlich zu belasten. Beides ist in Ordnung.

Warum fällt es Ärzten noch oft schwer, die Palliativmedizin frühzeitig miteinzubeziehen?
Ein Grund ist, dass Ärzte häufig die Sorge haben, dass sie Hoffnung nehmen könnten, wenn sie bei unheilbaren Erkrankungen realistische Therapieziele formulieren. Die nicht auf eine Lebensverlängerung abzielen, sondern auf den Erhalt oder die Verbesserung der Lebensqualität. Meine Erfahrung ist aber, dass es für viele Erkrankte und ihre Angehörigen wichtig ist, dass ehrlich mit ihnen gesprochen wird. Denn nur dann kann ja in alle Richtungen gedacht werden und neue Hoffnungen auf das, was noch möglich ist, können entstehen und Trost spenden. Zum Beispiel, dass man bis zuletzt gut versorgt ist und möglichst wenig Schmerzen oder andere Beschwerden hat. Dass man mutig seinen Weg geht. Dass man sich selbst vergibt oder sich mit anderen versöhnt. Es gibt viele Hoffnungen, die noch gepflegt werden können.
Wenn aber diese Hoffnungen immer verstellt werden durch unrealistische Therapieziele, dann kann das den gesamten Umgang mit der Situation für die Betroffenen erschweren. Natürlich gibt es auch Erkrankte, die das alles nicht hören wollen oder können, und solchen Gesprächen einen Riegel vorschieben.

Warum werden überhaupt die Angehörigen in die Therapie miteinbezogen?
Ein Grundprinzip der Palliativmedizin ist die „unit of care“. Das bedeutet, der erkrankte Mensch und seine Familie oder Freunde bilden eine Betreuungseinheit. Und das hat seinen Grund: Denn Angehörige haben eine Doppelrolle. Sie sind für die erkrankten Menschen ganz elementar wichtig, als Ratgeber, Unterstützer und Versorger. Gleichzeitig sind sie genauso auch Betroffene und haben eigene Ängste und Sorgen. Deshalb kümmern wir uns auch gleichermaßen um die Angehörigen.
Wir erleben häufiger, dass Angehörige, wenn wir sie fragen, wie es ihnen selbst geht, in Tränen ausbrechen und sagen: „Sie sind die Erste, die mich das fragt.“
Angehörige werden oft vergessen. Sie sind die stillen Leidenden. Umso wichtiger ist es, dass wir ihnen Raum geben, auch erzählen zu können und gesehen zu werden.

Was könnte man noch tun, damit es den Angehörigen in solch einer Situation besser geht?
Wir sollten wieder lernen, mit der Endlichkeit zu leben und diese zu thematisieren, ohne dass gleich so viel Angst damit verbunden sein muss. Denn der Tod gehört zum Leben dazu. Das ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die dabei helfen würde, diejenigen, die einen nahestehenden Menschen verlieren, mehr in die Mitte der Gesellschaft zu rücken.
Angehörige berichten immer wieder, dass sie in der Begleitung eines schwerstkranken Menschen Sinn erleben, sich Beziehungen vertiefen und sie über sich hinauswachsen. Aber sie erfahren eben auch viel Belastendes und gehen oft über ihre körperlichen und seelischen Grenzen. Das wird von ihnen selbst, aber auch von Außenstehenden immer noch unterschätzt. Und deshalb brauchen sie genauso unsere Hilfe wie die erkrankten Menschen selbst.

Vielen Dank für das Gespräch!