Alters- und Palliativmedizin

Altern als Aufgabe für die Gesellschaft

Dr. Uwe Jander-Kleinau, Chefarzt der Geriatrischen Abteilung des St. Vinzenz-Krankenhauses Hanau, erläutert im Interview die Möglichkeiten seniorengerechter Medizin.

08.03.2023
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Herr Dr. Jander-Kleinau, vor welchen generellen Problemen steht unsere alternde Gesellschaft?

Die generellen Probleme einer alternden Gesellschaft sind neben der ökonomischen Frage bezüglich der Renten die Ausrichtung auf das ausgewogene Miteinander von jungen, arbeitsfähigen Menschen und aus dem Arbeitsprozess ausgeschiedenen Menschen mit heterogenem Leistungspotenzial. Jede Gruppe für sich betrachtet, stellt selbst spezifische Lebensanforderungen wie work-life-balance, Mobilitätsgarantien unter der Berücksichtigung von CO²-neutralen finanzierbaren Vorzeichen und andererseits gesicherten Transport- und Versorgungsangeboten vor Ort bei eingeschränkter Beweglichkeit. Wobei sich auch einige Überschneidungen ergeben, die nur im Konsens zu lösen sind und beide Gesellschaftspole integrieren können. Ein Beispiel ist die Versorgung von Kindern und pflegebedürftigen alten Menschen. Beide bedürfen einer auf sie ausgerichtete Umgebung, Fachpersonal und für die Zugehörigen verlässliche Versorgungszeiträume.

Was sind aktuell die größten Herausforderungen?

Neben der Notfallversorgung und der ambulanten Pflege mit allen Problemen des Fachkräftemangels ist es die hausärztliche Versorgung und palliative Betreuung von alten Menschen in Pflegeeinrichtungen, die nur zum Teil stattfindet oder sogar übersehen wird.

Wo drückt die Geriatrie-Patienten aus Ihrer Sicht der Schuh? Und wo die Angehörigen?

Die bestehenden und zukünftigen Entwicklungen im Gesundheitswesen gehen immer von Standardsituationen aus und lassen die Variabilität und notwendige individuelle Behandlung und Versorgung außen vor. Es fehlen zunehmend kompetente Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartner in den Institutionen (Krankenhaus, Alten- und Pflegeheim). Der ambulante Sektor der pflegerischen Versorgung ist unterfinanziert und daher zu schmal ausgebaut für die vielen Anforderungen, die es in der Stadt und auf dem Land bräuchte. Die Teilhabe von Menschen mit Demenz beispielsweise findet häufig nur in Projekten oder nur auf dem Papier statt.

Welche Hilfestellungen kann die geriatrische Medizin alten Menschen geben?

Der Hilfe- und Pflegebedarf der geriatrischen Patientinnen und Patienten wird von Anfang an berücksichtigt. Die Kenntnis von den in das Alter mitgebrachte und auch im Alter erworbene Erkrankungen, die atypischen Beschwerden und Verläufe, deren Einflüsse auf die Gesamtkonstellationen in Bezug auf die Alltagsfähigkeiten und die Hirnleistungen finden in der geriatrischen Diagnostik und Therapie ihre Berücksichtigung. Durch das teamorientierte Konzept der unterschiedlichen Berufsgruppen (Ergotherapie, Physiotherapie, medizinische Versorgung durch Ärztinnen und Ärzte und aktivierende Pflege) werden diese komplexen Probleme gewichtet und durch individuelle Therapieansätze umgesetzt. Faktoren, die die Selbstständigkeit beeinträchtigen, werden erkannt und mittels Rehabilitationsmaßnahmen behandelt. Gleichzeitig werden die chronischen Erkrankungen dabei im Auge behalten und akute Entgleisungen unmittelbar erkannt und behandelt.

Welche ethischen Komponenten berücksichtigt geriatrische Medizin heute und künftig – beispielsweise das Thema Sterben in Würde versus Apparatemedizin?

Die geriatrische Medizin geht von Beginn der Behandlung auf die individuellen Bedürfnisse, die Lebenslage und die persönliche Haltung der Patientinnen und Patienten ein. Die Frage nach einer Patientenverfügung, dem Wunsch nach einer altersadäquaten Therapie oder einer Therapiebegrenzung gehört zum Standardrepertoire bei der Aufnahme in die Klinik. Dabei wird auf eine professionelle palliative Weiterbildung der Ärzte und der Pflege großen Wert gelegt, um zu jedem Zeitpunkt der geriatrischen Behandlung ein fundiertes palliatives Konzept anbieten zu können bis hin zu eigenen Zimmerbereichen mit der Möglichkeit für Angehörige, 24 Stunden anwesend sein zu können. Natürlich findet das auch die Unterstützung der Deutschen Hospizgesellschaft und des Deutschen Ethikrates. Aber zuerst braucht es die persönliche Initiative von einigen tatkräftigen Menschen vor Ort zusammen mit zum Beispiel der Caritas oder anderen öffentlichen Betreibern. Leider ziehen sich viele Träger zugunsten einer rein ökonomischen Betrachtung aus der ethisch-christlichen Verantwortung zurück, mit der Begründung des Existenzverlustes bei einem merkantilistischen Berechnungssystem im Gesundheitswesen.

Welche Entwicklungen/Leistungen machen die geriatrische Medizin zukunftsfähig?

Zum einen die telemedizinischen Fortschritte in der Medizin und der Zugang von Geriatern in alle Bereiche der stationären und ambulanten Gesundheitsversorgung. Dabei spielt die Vernetzung ortsnah mit Tagesklinik, Alten- und Pflegeheimen sowie dem Sozialdienst eine zentrale Rolle. Auch der Rettungsdienst sollte sich in diesem Bereich spezialisieren, um unnötige Krankenhauseinweisungen von multimorbiden, hochaltrigen Menschen mit dem Wunsch, nur noch ambulant versorgt zu werden, zu vermeiden. Das wäre in der Tat auch Kosteneinsparung auf dem stationären Sektor und entspricht einer medizinischen individuellen Behandlung nah am Menschen. Auch die Entwicklung der Digitalisierung von Therapien hat in einigen Studien gute Ergebnisse hervorgebracht und hilft, den Fachkräftemangel abzufedern.

Wo sehen Sie Anknüpfungspunkte der Medizin zur technischen Entwicklung an anderer Stelle – zum Beispiel Künstliche Intelligenz oder Pflegeroboter?

KI ist natürlich ein wichtiger Baustein für die Modernisierung im Gesundheitswesen. Dazu müssen aber die Netzvoraussetzungen und entsprechende Mitarbeiterschulungen getätigt werden. Der Pflegeroboter ist zwar entwickelt, aber aufgrund des hohen Anschaffungspreises und der wenigen Einsatzmöglichkeiten nicht wirklich brauchbar. Kleine Lösungen bei der täglichen Routine machen dabei mehr Sinn, wie die digitale Übertragung der gemessenen Vitalwerte in die elektronische Patientenakte, Spracherkennungssysteme für Diktate oder Robotassistenz im OP.

Wenn Sie einen (fiktiven) Blick nach vorn werfen – wie stellen Sie sich die alternde Gesellschaft der Zukunft vor?

Der medizinische und gesellschaftliche Fortschritt hat sich schon über wenige Jahrzehnte lebensverlängernd ausgewirkt. Gesundes Altern wird attraktiver, allerdings um den Preis einer verlängerten Arbeitsphase, die sicherlich noch modifiziert werden kann, in der junge Familien entlastet werden von den älteren Mitgliedern einer Gesellschaft, wenn also eine Arbeitsumverteilung stattfindet. Dabei werden die Umweltbedingungen natürlich auch eine wichtige Rolle spielen müssen und Wachstum wird eher horizontal verstanden. Die Automatisierung kann die Menschen freistellen für mehr sozialgesellschaftliche Aufgaben, wenn es gelingt, die Finanzierung umzulenken zugunsten einer Grundsicherung für alle. Das generationsübergreifende Wohnen und die damit ortsnahe Versorgung von hochaltrigen Menschen muss noch mehr ermöglicht werden. Bei der Mobilität sind ganz sicher die selbstfahrenden Systeme ein Schwerpunkt in der Zukunft, wie auch die Digitalisierung der Lebensmittelbesorgung eine große Rolle spielen wird. Der ambulante Gesundheitssektor wird sich zu mehr Vernetzung und Zentrumsbildung entwickeln, mit dem Ziel einer lückenlosen Behandlung und Betreuung von hochaltrigen, multimorbiden Menschen. Natürlich wird es weitere Fortschritte in der Behandlung von Demenzerkrankungen geben bis hin zu prophylaktischen Maßnahmen, die eine Erkrankung zu einem späteren Zeitpunkt verhindern werden. Aber natürlich wird es auch neue Herausforderungen an die Medizin geben, wie wir es bei der letzten Pandemie erlebt haben.

Die Fragen stellte Dr. Eva Wodarz-Eichner