Allgemeine Medizin

Migräne ist ein oft unterschätztes Leiden

Migräne wird häufig unterschätzt, obwohl Betroffene enorm darunter leiden. Im Interview spricht der Neurologe und Psychiater Dr. Borries Kukowski über diese Problematik.

12.07.2021

Extreme Kopfschmerzen, oft einhergehend mit Übelkeit, Lähmungserscheinungen, Licht- und Lärmempfindlichkeit. Das sind die Kennzeichen einer Migräne. Vor allem Menschen, bei denen sie häufig auftritt und tagelang anhält, leiden enorm darunter. Laut einer aktuellen Studie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE) handelt es sich dennoch um eine unterdiagnostizierte und untertherapierte Erkrankung. Der Göttinger Neurologe und Psychiater Dr. Borries Kukowski spricht darüber, warum viele Patienten nicht leitliniengemäß behandelt werden und wie man ihnen besser helfen kann.

Was könnte ein möglicher Grund für die Unterbehandlung von Migräne sein?
Ein Aspekt ist sicher, dass Migräne weiterhin nicht ernstgenommen wird. Tatsächlich handelt es sich aber sich um eine ernsthafte Erkrankung, die das Leben sehr stark einschränkt. Ein anderer Grund liegt darin, dass Betroffene zu selten ärztliche und dann gegebenenfalls auch fachärztliche Hilfe in Anspruch nehmen. Wir wissen nicht genau, warum das so ist. Tatsächlich geht es oft zunächst darum, die Akuttherapie zu optimieren. Es fällt auf, dass Triptane als Goldstandard immer noch zu selten verordnet werden. Noch ausgeprägter gilt dies für die Möglichkeiten sowohl der nichtmedikamentösen als auch der medikamentösen Vorbeugung. Hier verfügen wir über ein umfangreicheres Angebot als noch vor kurzer Zeit.

Weshalb ist eine Migräneprophylaxe für Betroffene so entscheidend?
Eine medikamentöse Migräneprophylaxe sollte bei denjenigen zum Einsatz kommen, die eine hohe Migränebelastung haben. Dies lässt sich nur individuell und nicht nur über die pure Zahl der Migränetage pro Monat erfassen, sondern sollte auch Intensität der Schmerzen und der Begleitsymptome, überhaupt die Beeinträchtigung im Alltag berücksichtigen. Ebenso gilt: Wenn die Einnahmehäufigkeit der Akutmedikamente, also von Schmerzmitteln und Triptanen, an eine gewisse Grenze gelangt, muss man ebenfalls sehr aufmerksam werden, denn deren Überschreiten ist mit dem Risiko einer Vermehrung der Kopfschmerzen verbunden. Wir sprechen dann von Kopfschmerzen bei Medikamentenübergebrauch. Eine Vorbeugung der Migräne, also eine Migräneprophylaxe, kann zu einer deutlich besseren Lebensqualität führen.

Wie hilfreich kann eine Migränespritze als präventive Maßnahme sein?
Zunächst muss gesagt werden, dass die bislang zur Migränevorbeugung verfügbaren Medikamente durchaus bewährt sind und es auch bleiben. Allerdings heißt das nicht, dass wir nicht schon lange Verbesserungspotenzial gesehen hätten. Es gab schon immer einige Aspekte, die den Umgang mit diesen vorbeugenden Therapien nicht ganz einfach gestaltet haben. Häufig ist die Behandlung an Nebenwirkungen gescheitert. Bei der Migränespritze handelt es sich dagegen um die erste speziell für die Migräne entwickelte Therapie, und zwar um sogenannte monoklonale Antikörper, die den im Nervensystem weit verbreiteten Überträgerstoff CGRP oder dessen Rezeptor binden. Die Antikörper verhindern auf diese Weise die Schmerzweitergabe durch den Überträgerstoff CGRP an das Gehirn.

Kann die Migränespritze nur bei einer chronischen Migräne angewendet werden?
Die Wirksamkeit ist für die episodische und die chronische Migräne sehr gut dokumentiert, auch bei schwierigen Fällen, wenn schon verschiedene andere Behandlungsversuche zuvor gescheitert waren. Darüber hinaus zeigt die Antikörpertherapie ein sehr gutes Verträglichkeitsprofil. Die überschaubaren Nebenwirkungen führen auch zu weniger Abbrüchen. Ein weiterer Aspekt ist sicherlich auch, dass Betroffene die Möglichkeit haben, die Migränespritze selbst anzuwenden. Darüber hinaus ist eine Anwendung pro Monat ausreichend. Patienten können also auf die regelmäßige Einnahme von Tabletten verzichten.

Warum ist gerade eine aktive Mitarbeit des Patienten so wichtig?
Jede Migräne ist individuell. Dementsprechend ist es wichtig, stets die jeweilige Gesamtsituation des Betroffenen im Blick haben. Nur so können wir gemeinsam ein Gesamtkonzept für die Behandlung entwerfen. Hilfreich ist es, dass Betroffene kontinuierlich ein sogenanntes Migränetagebuch führen. Damit behält man die Zahl der Migräne- und Kopfschmerztage, aber auch Intensität, Beeinträchtigung im Alltag und Häufigkeit der Medikamenteneinnahme im Blick und kann möglicherweise auslösende Faktoren, auch Trigger genannt, ausfindig machen.

Die Pandemie-Situation bedeutet für viele Menschen erheblichen Stress. Dieser gilt als Trigger für Migräneattacken. Welche Tipps können Sie Betroffenen an die Hand geben?
Für Migränebetroffene bedeutet die gegenwärtige Situation, dass Wechsel in der Tagesroutine und möglicherweise erhöhte Stresseinwirkung durch die Veränderungen des Alltags Migräneattacken provozieren können. Diesbezüglich spricht nichts gegen die weitere Einnahme von Triptanen oder auch anderen Schmerzmedikamenten. Auch eine medikamentöse Prophylaxe kann unverändert beibehalten werden. Ansonsten rate ich dazu, auf das Einhalten von Pausen zu achten, erlernte Entspannungstechniken konsequent einzusetzen, Ausdauersport beizubehalten. (red)