Allgemeine Medizin

Können wir unserem Bauchgefühl vertrauen?

Unsere Intuition wird nicht von Statistiken und Datenbanken gefüttert, sondern von der Summe unserer gesammelten Erfahrungen. Doch taugen die als Grundlage, um wichtige Entscheidungen zu treffen?

12.09.2019
Bei wichtigen Entscheidungen auch auf den Bauch hören.    Foto: AdobeStock/Dan Race Bei wichtigen Entscheidungen auch auf den Bauch hören. Foto: AdobeStock/Dan Race

Es war an einem sonnigen Tag im Juli, als Gregor S. plötzlich ein mulmiges Gefühl in der Magengegend hatte. „Wahrscheinlich haben Sie etwas Falsches gegessen oder getrunken“, mutmaßte sein Hausarzt und verordnete Tabletten für die Verdauung. Doch das ungute Gefühl blieb. Auch der zwei Wochen später auf seinen Wunsch gemachte Laborbefund zeigte keine Auffälligkeiten. Doch der Familienvater aus Freiburg im Breisgau wollte sich nicht damit zufriedengeben. Auf sein Drängen bekam er eine Überweisung zum Gastroenterologen. Der machte einen Ultraschall. Das Ergebnis: ein großes Aneurysma an der Aorta. Das Risiko eines Risses war groß – eine potenziell lebensgefährliche Situation. Mehr als die Hälfte der Patienten sterben daran.
Gregor S. aber hatte Glück. Er wurde vorsorglich operiert und bekam eine Gefäßprothese. Sein Bauchgefühl hat ihn vor Schlimmerem bewahrt.

Erfahrung schlägt Sachwissen

Studien belegen, dass es weniger eine Frage des Typs ist, ob der Verstand oder der Bauch entscheiden, sondern eine des Erfahrungsschatzes. Haben wir in einem Bereich besonders viel davon im Leben angehäuft, können wir es uns leisten, intuitiv zu entscheiden. Und das Ergebnis ist auch entsprechend besser als das von Entscheidungen, die rein auf der Basis von Daten und Zahlen getroffen werden. „Je mehr Erfahrung jemand mit einem Problem hat, desto besser ist er beraten, sich auf seine erste Intuition zu verlassen und eine schnelle Entscheidung zu treffen. Ohne diese Erfahrung sollte man sich lieber Zeit nehmen und alle Optionen abwägen“, schreiben die renommierten Entscheidungspsychologen Prof. Wolfgang Gaissmaier und Dr. Hansjörg Neth von der Universität Konstanz in einem Beitrag für die Zeitschrift „Controller Magazin“.
Es liegt auf der Hand, dass Ältere aufgrund ihrer Lebensjahre mehr Erfahrungen haben als Jüngere. Deshalb entscheiden sie auch öfter aus dem Bauch heraus, ohne eine rationale Grundlage.
Das verblüffende Ergebnis: Diese schnellen, intuitiven Entscheidungen, auch Heuristiken genannt, sind häufig richtig.

Aufs Wesentliche konzentrieren

Dieses Ergebnis lässt sich auf jedes Themenfeld übertragen, in dem man relevante Erfahrungen gemacht hat. In Bezug auf die Gesundheit sind es Erfahrungswerte mit dem eigenen Körper. Signale, die er aussendet, können wir dank dieses inneren Koordinatensystems besser vergleichen und einordnen.
Das trifft auch auf Ärzte zu. In einer Studie über den Zusammenhang zwischen Entscheidungsgeschwindigkeit und Diagnosefehlern fanden Forscher den Beweis, dass schnelle diagnostische Urteile von Medizinern häufig besser sind als solche, über die sie länger nachdachten. Mehr Information ist also nicht immer hilfreich. Das bestätigt auch Neth: „Bei vielen Entscheidungen ist es ratsam, lediglich auf einen guten Grund zu setzen und die restlichen Gründe zu ignorieren, weil diese vom Wesentlichen ablenken und nur alles komplizierter machen.“ Bei rund 20.000 Entscheidungen, die wir tagtäglich treffen müssen, ist das Bauchhirn also eine gute Hilfe.

Intuition nicht blind vertrauen

Trotzdem wäre es fahrlässig, wichtige Informationen und neue Erkenntnisse zu ignorieren, nur weil man seinem Bauchgefühl 100-prozentig vertraut. Auch sind manche Erfahrungen und Glaubenssätze tatsächlich veraltet. Gerade in Bezug auf unsere Gesundheit können und sollten wir nicht allein auf diesen individuellen Erfahrungsschatz bauen. Schließlich kann dieses Vorgehen hier mitunter über Leben und Tod entscheiden. „Je berechenbarer eine Situation ist, desto mehr brauchen wir statistisches Denken und komplexe Modelle. Je unberechenbarer eine Situation ist, desto mehr brauchen wir einfache Heuristiken, einschlägige Erfahrung und Vertrauen auf Intuition, schreiben die Entscheidungspsychologen Gassmaier und Neth.
Fazit: Es ist wichtig und richtig, sich gut beraten zu lassen und sich selbst zu informieren, ggf. eine Zweitmeinung einzuholen, bevor man den nächsten Therapieschritt tut. Doch am Ende sollte der Mensch selbst entscheiden, welchen Weg er gehen will und das möglichst nicht gegen seine innere Überzeugung, sein Bauchgefühl. (bibi)