Allgemeine Medizin

„Dass jeder Mensch für sein Gewicht selbst verantwortlich ist, sagt sich leicht“

Adipositas entwickelt sich überall auf der Welt in besorgniserregendem Ausmaß. Im Interview spricht Prof. Dr. med. Matthias Blüher von der Universität Leipzig Department Medizin, Mediensprecher der Deutschen Adipositas-Gesellschaft, über die Gründe und Auswirkungen dieser stillen Pandemie.

07.03.2022

Teilen Sie die Einschätzung der WHO, dass es sich bei Adipositas um eine Pandemie handelt?
Ich teile diese Einschätzung. Verglichen mit Covid-19 ist es aber eine Pandemie in Zeitlupe. Über die letzten 30 bis 40 Jahre hat sich in jedem Land der Welt das Vorkommen von Adipositas mindestens verdreifacht. In manchen Regionen liegt bereits der normale Body-Mass-Index in einem Bereich, den man als Adipositas bezeichnen würde.

Wo liegen die Ursachen dafür?
Die einfache Erklärung ist, dass es sich um eine Fehlbalance zwischen zu viel essen und zu kalorienreich trinken auf der einen Seite und zu wenig körperlicher Aktivität auf der anderen Seite handelt. Das ist die simple physikalische Erklärung. Warum man zu viel isst und sich zu wenig bewegt, hat allerdings komplexere Ursachen. Wir wissen seit ein paar Jahren, dass unser Ess- und Bewegungsverhalten durch Hormone gesteuert wird. Wir schützen uns als Menschen bestmöglich vor dem Verhungern, das sind uralte Mechanismen, die jetzt zu unserem Feind werden, weil wir uns überessen und nicht bremsen können. Das trifft heutzutage auf gesellschaftliche Verhältnisse, in der Nahrung und insbesondere ungesunde Nahrung im Überfluss zu jeder Zeit verfügbar ist. Dazu kommt eine Arbeitssituation, in der wir uns deutlich weniger bewegen müssen als noch vor 100 Jahren.

Die Schuld an Adipositas einfach auf den Einzelnen zu schieben, greift also zu kurz?
Auf jeden Fall. Die Effektstärke, die man mit weniger Essen und mehr Bewegung erreichen kann, liegt durchschnittlich zwischen drei und fünf Kilogramm. Viele Adipositas-Patienten haben aber 50 bis 60 Kilo zu viel Gewicht. Da reichen Ernährungsmaßnahmen nicht mehr aus. Dann ist es ein echtes biologisches Problem, eine Krankheit. Dass jeder Mensch für sein Gewicht selbst verantwortlich ist, sagt sich leicht. Der aktuelle Stand der Wissenschaft unter Berücksichtigung von Genetik, Stoffwechsel und Hormonen zeigt jedoch: So simpel ist es nicht. Wer die entsprechende Veranlagung hat, für den ist es ganz schwer, das Problem einfach wegzuhungern. Um Adipositas zu verhindern oder frühe Stufen in den Griff zu bekommen, sind entsprechende Ernährungs- und Bewegungsmaßnahmen allerdings richtig und wichtig.

Gerade bei Kindern und Jugendlichen kann Adipositas dramatische Auswirkungen haben. Wie sieht die Situation bei ihnen aus?
Es gab mal eine Zeit, in der die Zunahme von Adipositas im Kindes- und Jugendalter weltweit stagnierte. Allerdings sind wir jetzt in einer Phase, auch bedingt durch die Corona-Pandemie und die Lockdown-Maßnahmen, in der die Zahlen rasant steigen. Das bereitet uns große Sorgen, da wir wissen, wie schwer es ist, das wieder rückgängig zu machen. Die Stärkung der Adipositas-Therapie ist heute wichtiger denn je.

Beeinflussen sich Corona-Pandemie und Adipositas-Pandemie auch allgemein?
Ja, und zwar in beide Richtungen. In den Kliniken beobachten wir, dass Menschen, die zu viel wiegen, ein höheres Risiko für schwerere Covid-19-Verläufe haben. Auf der anderen Seite haben alle Menschen, die Maßnahmen wie Homeoffice und Quarantäne sowie auch der Schließung von Fitnessstudios und dem Wegfall von Sportangeboten in Vereinen ausgesetzt sind, das Problem, dass die Gewichtszunahme dadurch gefördert wird. Etwa jeder dritte Erwachsene hat im ersten Jahr der Corona-Pandemie zugenommen, im Schnitt mehrere Kilogramm.

Im Fall der Corona-Pandemie dauerte es nur wenige Wochen, bis Gesellschaften weltweit auf dem Kopf standen. Warum läuft eine Adipositas-Pandemie dagegen über Jahrzehnte weitestgehend unter dem Radar?
Adipositas ist im Gegensatz zu Covid-19 nicht akut lebensbedrohlich und hat nicht binnen kurzer Zeit so viele Todesopfer gefordert. Da Adipositas langsam abläuft, wird es auch gerne übersehen. Schleichende Veränderungen werden von Menschen als nicht so gefährlich wahrgenommen, obwohl sie es durchaus sein können.

Welche Auswirkungen hat Adipositas für Betroffene?
Im schlimmsten Fall verkürzt es deutlich die Lebenserwartung, abhängig von der Schwere des Patienten um bis zu zwölf Jahre. Darüber hinaus steigt das Risiko für Krankheiten, die die Lebenserwartung und die Lebensqualität noch weiter einschränken, erheblich. Dazu gehören zum Beispiel Diabetes, Herz- Kreislauferkrankungen und auch einige Arten von Krebs. Das sind die rein körperlichen Auswirkungen. Dazu kommt die Einschränkung der Leistungsfähigkeit und eine gestörte Selbstwahrnehmung bis hin zum Verlust des Selbstwertgefühls, was nicht selten zur Depression führt.

Wie wirkt sich Adipositas darüber hinaus auf das Gesundheitssystem aus?
Die Kosten, die Adipositas für die Gesellschaft verursacht, sind immens. Sie bewegen sich zwischen 30 Milliarden an direkten Kosten und 60 Milliarden volkswirtschaftliche Gesamtkosten.
Dementsprechend müsste gerade die Politik ein großes Interesse daran haben, Adipositas entgegenzuwirken.

Geschieht auf dieser Ebene genug?
Ich denke, da geschieht noch zu wenig. Die Problematik ist den Politikern und Gesundheitsexperten durchaus bewusst. Sie pochen aber oft auf die freie Wahlmöglichkeit der Bevölkerung, so zum Beispiel unsere ehemalige Landwirtschaftsministerin Julia Klöckner, die zwar für Anreize für einen gesünderen Lebenswandel war, die Menschen aber keinesfalls einschränken wollte. Dabei muss man sich allerdings fragen, ob die freie Wahl überhaupt gegeben ist, wenn das gesunde Essen auch das teuerste ist. Sowohl bei der Preisgestaltung, als auch in Sachen Aufklärung könnte viel mehr getan werden. Wo sich der Staat bisher ebenfalls sehr zurückhält, ist bei der Werbung für ungesunde Lebensmittel bei Kindern und Jugendlichen. Wenn die ihre Vorbilder und Helden Softdrinks und Schokoaufstrich konsumieren sehen, ist das natürlich nicht gerade förderlich. Immerhin möchte die Ampelkoalition nun gegen solche Werbung
aktiv werden. Das wäre ein Schritt in die richtige Richtung.

Was hat sich auf der anderen Seite bereits getan?
Man muss sagen, dass in Deutschland viel in die Forschung zum Thema Adipositas investiert wurde. Die Unterstützung und die Förderung in diesem Bereich sind gut. Das führt letztlich zu besseren Behandlungsmöglichkeiten für die Betroffenen.

Was würden Sie sich für die Zukunft noch an Veränderungen wünschen?
Die Versorgungsqualität und der Zugang zu Therapiemöglichkeiten müssen sich insgesamt noch deutlich verbessern. Sie sind unter anderem dadurch eingeschränkt, dass Betroffene die Adipositas-Therapie in Form von bestimmten Ernährungsberatungen, Bewegungsprogrammen und Medikamenten selbst zahlen müssen. Erst wenn sie einen Herzinfarkt haben oder Diabetes entwickeln, springt das solidarische System ein.

Das Interview führte
Daniel Holzer