Allgemeine Medizin

„Betroffene stehen schnell im Schatten“

Die Zahl der Menschen, die an chronischen Schmerzen leiden, ist groß – und sie wächst stetig. Dennoch bekommt die Schmerz- und Palliativmedizin bei weitem nicht die Aufmerksamkeit wie andere Fachrichtungen. Im Interview spricht PD Dr. med Michael Überall, Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Schmerzmedizin e.V. (DGS), über Gründe, Auswirkungen und Fortschritte.

07.03.2022

Wie ist die aktuelle Versorgungslage im Bereich der Schmerzmedizin
Dr. med. Michael Überall: Die Versorgungslage ist schlecht. Wir haben in Deutschland knapp vier Millionen Menschen mit einer schwerwiegenden chronischen Schmerzerkrankung. Dazu kommt noch eine große Zahl an Fällen, etwa 22 bis 24 Millionen, die zwar nicht schwerwiegend sind, die aber dennoch immer wieder unter Schmerzen leiden. Diese Zahlen steigen durch die Überalterung der Gesellschaft stetig. Demgegenüber stehen nur 1350 qualifizierte Schmerzmediziner, die über eine spezifische Fachrichtung hinaus eine ganzheitliche Versorgung anbieten können, die Menschen mit chronischen Schmerzen dringend brauchen. Das reicht nicht mal ansatzweise.

Sieht es bei der Behandlungsqualität anders aus?
Da sind wir eigentlich relativ gut aufgestellt. In den letzten Jahren hat sich zwar im medikamentösen und technologischen Bereich nur wenig getan, aber wir haben immer besser verstanden, in welcher Form die verschiedenen Therapieoptionen angewendet werden müssen, um Betroffenen bestmöglich helfen zu können. Seit einigen Jahren gibt es das Konzept der multimodalen Schmerztherapie, bei der verschiedenen Komponenten kombiniert und auf den Patienten maßgeschneidert werden. Der Patient wird damit in die Lage versetzt, aktiv bei der Therapie mitzugehen. Man hat sich also von dem Konzept verabschiedet, dass der Patient passiver Teil einer Therapie ist. In den Bereichen, wo das gut umgesetzt wird, ist es mittlerweile möglich, nicht nur akut Leiden zu lindern, sondern auch den Krankheitsverlauf entscheidend zu verändern.

Haben Sie ein Beispiel?
Wir haben für verschiedene Krankenversicherungen sogenannte Qualitätssicherungsverträge evaluiert, wo solche speziellen Therapieangebote zum Beispiel für chronische Kreuz- und Rückenschmerzen gemacht werden. Da sehen wir, dass Menschen, die aus diesen Intensivprogrammen rausgehen, Monate und Jahre später immer noch davon profitieren, weil sich ihr Verhalten in eine gesundheitsförderliche Richtung verändert hat und sie das Management für ihre Schmerzerkrankung teilweise selbst in die Hand nehmen können. Das ist ein entscheidender Schritt. Einfach nur neue Medikamente zu verordnen, bringt nicht so viel. Man muss den Patienten deutlich machen, welche Rolle sie selbst spielen können und wie sie dann im Zusammenspiel mit neuen Medikamenten gut für die Zukunft vorsorgen können.

Trotz der hohen Fallzahlen und der Dringlichkeit, für Betroffene mehr zu tun, bekommt die Schmerzmedizin vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit. Woran liegt das?
Das hat verschiedene Gründe. Einer davon ist, ich sage es jetzt mal ganz hart: Das Thema ist nicht sexy. Wenn Sie zum Beispiel herzkrank sind oder Krebs haben, gibt es eine riesige Lobby, die sich kümmert. Bei Schmerzen ist die Zuwendung zwar auch intensiv, aber nur solange sie akut sind. Bei chronischen Schmerzen wandelt sich das leider. Das liegt unter anderem daran, dass sie sich nicht so einfach untersuchen lassen. Da kann ich nicht einfach ein Röntgenbild machen und finde sofort einen konkreten Befund. Daraus entwickelt sich oft die Denkweise: Der Patient will gar nicht richtig gesund werden oder er simuliert im schlimmsten Fall sogar. Man sieht Schmerzpatienten ihr Leiden von außen meist nicht an. Darunter leiden Betroffene dann noch zusätzlich. Dazu kommt, dass die Fachdisziplinen, die den Akutschmerz behandeln, sich zurückziehen, wenn sie ihr Können ausgeschöpft haben und die Gesundung dennoch nicht eintritt. Sie verlieren dann schlichtweg das Interesse an diesen Patienten. Betroffene Schmerzpatienten stehen also ganz schnell im Schatten, was sich dramatisch auf ihr soziales und berufliches Umfeld auswirkt. Viele Schmerzpatienten erleben zum Beispiel, dass als zusätzlicher Preis für ihre Erkrankung auch die Beziehung zerstört wird. Sie finden sich dann am Rand der Gesellschaft wieder, wo es für gewöhnlich nur wenig Aufmerksamkeit gibt.

Welche Rolle spielt die DGS in diesem Themenkomplex?
Die DGS ist eine Gesellschaft von schmerzinteressierten Ärzten und nichtärztlichen Schmerzexperten aus unterschiedlichen Fachrichtungen. Sie eint, dass sie sich um Menschen mit Schmerzerkrankungen kümmern wollen, die in der Regelversorgung nur unzureichend behandelt werden. Sie schauen dabei über ihren eigenen Tellerrand hinaus und versuchen Angebote zu finden und zu entwickeln, die den Patienten wirklich helfen. Die starke Patienten- und Versorgungsorientierung unterscheidet sie auch von vielen anderen Fachgesellschaften. Es geht bei der DGS weniger darum, permanent zu forschen, sondern eher, neue Forschungserkenntnisse und Therapiemöglichkeiten möglichst schnell den Patienten zuführen und ihnen damit helfen, ihren schweren Alltag wieder in den Griff zu bekommen.

Ein Beispiel für die Arbeit der DGS ist das Praxisregister Schmerz. Worum handelt es sich dabei?
Man hat festgestellt, dass bei Menschen mit unerwartet lang anhaltenden Schmerzen nicht nur die biologischen Befunde eine Rolle spielen, sondern es zu einem Wechselspiel mit psychologischen und sozialen Faktoren kommt, die auf unterschiedliche Weise den Krankheitsverlauf verändern können. Vor vielen Jahren bildete sich deshalb bereits ein interdisziplinärer Kreis an Experten mit dem Ziel, die Not dieser Menschen besser zu verstehen und, um ihnen wirklich helfen zu können, die wahren Gründen für das gesundheitliche Problem herauszufinden. Aus diesen Überlegungen heraus entstanden Definitionen, welche Informationen beim Patienten gesammelt werden müssen. Das mündete im Konzept des Deutschen Schmerzfragebogens, einer Selbstauskunft, bei der sowohl die biologischen, als auch die psychischen und sozialen Facetten abgebildet werden. Das ist die Basis, um Menschen mit einer chronischen Schmerzerkrankung besser verstehen zu können. Damit sich dieses System für den Hausarzt und den Schmerzmediziner besser auswerten lässt, haben wir eine digitale Plattform geschaffen, auf der der Patient seine Informationen exakt dort eingeben kann, wo der Arzt sie benötigt. Die Plattform bereitet diese Informationen auf und vermittelt dann ein gutes Bild, wohin die Reise geht, also wie gut oder auch wie schlecht der Patient auf eine Therapiemaßnahme anspricht. Dieser Pool an Daten, der eigentlich der Versorgung in einem konkreten Einzelfall dient, kann nun – in entpersonalisierter Form und mit Einverständnis der Patienten und Ärzte – allen zur Verfügung gestellt werden und somit weiterhelfen, um Therapien zu optimieren und die Kommunikation zwischen Arzt und Patient zu verbessern.

Wie umfangreich ist das Praxisregister Schmerz?
Der aktuelle Stand ist, dass wir Datensätze von 362.618 Fällen im Praxisregister Schmerz versammelt haben. Und es wächst stetig. Seit Jahresbeginn sind pro Werktag ungefähr 380 neue Datensätze dazugekommen. Das ist im Vergleich zum Vorjahr fast eine Verdoppelung. Außerdem sind mittlerweile 840 Zentren, in denen knapp 3500 Schmerzspezialisten arbeiten, an diesem System beteiligt.

Wo hat das Praxisregister Schmerz bereits für Fortschritte sorgen können?
Die großen Datenmengen ermöglichen uns eine gute Analyse, wie bestimmte Krankheitsbilder wirklich sind. Die Analysen, die es vorher zum Beispiel für Fibromyalgie gab, basierten auf der Untersuchung von relativ kleinen Patientenzahlen. Wir haben im vergangenen Jahr die umfangreichen Datensätze des Registers durchsucht, um herauszufinden, wie viele Patienten mit Fibromyalgie sich darin befinden. Dabei konnten wir anhand der Kennzeichen, die es für diese Krankheit gibt, über 15.211 Fälle ermitteln. Das Überraschende war für uns: Über einem Drittel dieser Patienten war die Diagnose überhaupt nicht bekannt. Das heißt sie haben Fibromyalgie, aber es wird nicht behandelt. Eine exakte Diagnose ist in der Schmerztherapie aber unheimlich wichtig für die Behandlung. Wir konnten außerdem herausfinden, dass der Krankheitsbeginn in einigen Fällen deutlich früher einsetzt, als bislang allgemein angenommen wurde. Es vergeht dann mitunter eine lange Zeit, bis diese Patienten die richtige Diagnose bekommen, und in der sie falsch behandelt werden. Das Register kann also dabei helfen, frühzeitig die richtige Diagnose zu stellen, damit Ärzte rechtzeitig eingreifen und dem Patienten viel Leid ersparen können.

Wo erhoffen Sie sich weitere neue Erkenntnisse?
In den vergangenen Jahren wurde schon dazu geforscht, inwieweit Cannabis als Schmerzmedizin bei Patienten Fortschritte bringt. Dabei zeigte sich, dass Cannabis zwar kein Wundermittel ist, in einigen Fällen aber helfen kann. Durch die Daten des Registers erhoffen wir uns dahingehend ein noch klareres Bild. Wir planen außerdem Untersuchungen zum Einsatz von Anästhetika bei älteren Menschen und zu Schlafstörungen bei Schmerzpatienten. Das Spektrum der Analysemöglichkeiten, die das Register bietet, ist allerdings so riesengroß, dass wir uns derzeit nur einzelne Rosinen rauspicken können, die wir genauer unter die Lupe nehmen. Wir hoffen daher, dass wir diesen Datenpool in Zukunft auch Forschenden aus anderen Bereichen zugänglich machen können. Da müssen aber mit Blick auf den Datenschutz noch ein paar Hürden genommen werden.

Das Interview führte
Daniel Holzer